Titelbild
i Login
anonym
Druckansicht Hilfe
Icon
Login
Icon
Start
Icon
Verlage
Icon
Texte
Icon
Bände
Icon
Reihen
Icon
Extras
Forum
Forum
Icon
Gästebuch
Wiki
Wiki
Impressum
Impressum
Logo Karl-May-Verein

< zurück zum Text

Text-Rezensionen

zum Text: Zerrissen

Lesevergnügen 1 Punkt 1 Punkt 1 Punkt 1/2 Punkt kein Punkt
Information über Land und Leute 1 Punkt 1 Punkt kein Punkt kein Punkt kein Punkt
Biografische Bedeutung 1 Punkt kein Punkt kein Punkt kein Punkt kein Punkt


Eintrag von thoschw (vom 13.8.2005) (weitere Einträge von thoschw)

Dieses kurze Prosa-Fragment versteckt sich zwischen den Notizen zu Mays fragmentarischem Musikwerk "Die Pantoffelmühle" und ist entsprechend im KMV-Sonderband "Karl May und dei Musik" auf S. 227 abgedruckt. Eine Datierung des nur zwei kleine Absätze umfassenden Fragmentes ist schwierig, da das Blatt älter sein kann als die "Pantoffelmühle", deren Entstehungszeit zudem auch nicht gesichert ist. Möglich ist also, daß der Text schon zu Zeiten des "Repertoriums" entstand - der Titel "Zerissen" steht immerhin als Nr. "96.)" in der Liste , vielleicht aber auch erst 1869 oder gar erst nach 1874, möglicherweise ja unter dem unmittelbaren Eindruck einer Eisenbahnfahrt, z.B. in den Urlaub.

Trotz der Kürze hat es der nach "der Wirklichkeit nacherzählt[e]" Anfang der fragmentarischen Geschichte in sich. Ort der Handlung ist ein Zugabteil - genauer ein "Coupé" eines "von der Residenz" - Dresden? - "expedirten Courirzuges", in der es zu einer "höchst animirte[n] Unterhaltung" zwischen den Fahrgästen zweiter "Classe" kommt. Allein diese sorgfältige, gebildete Wortwahl, diese feine, delikate, ja geradezu pafümierte Sprache verrät schon das Talent des großen Romancier, eines Balzac würdig, und den frühen Willen, hochliterarische Werke zu schaffen.

Der politische May, der Revolutionär, schimmert ebenfalls durch, der Gedanke an Meinungsfreiheit keimt da unverhohlen auf, so liest man, daß "der Meinungsaustausch ein umso rückhaltsloserer und freierer" sei, "je weniger man zu Rücksichten verbunden" sei. Auch die Utopie der klassenlose Gesellschaft entsteht in diesem Mikrokosmos, wo doch "Niemand eine Frage nach Namen, Stand, Wohnort und Reiseziel" ausspricht.

May versteht es dann ferner, das ganze Spektrum des menschlichen Seins, also Wunschdenken, Weltlage und Wirtschaft (von Wein, Weib und Wetter ganz zu schweigen) in einen einzigen Satz zu packen: "Religion, Geschichte, Politik, kurz alle Gebiete menschlichen Sinnens und Schaffens hatten reichlich Stoff zur Besprechung liefern müssen". Doch speziell die Literatur, "die mit ihren tausendfältigen Erscheinungen eine reiche Fülle des interessanten Stoffes bot" hatte unser aufstrebender Autor im Sinn: "Die alte und neuere und neuste Zeit" wurde, "wie im Fluge abgethan" - und dies zu einer Zeit, da das Ballonfahren die einzige Möglichkeit eines Fluges war, der sich allenfalls aber nur dann mit nennenswerter Geschwindigkeit vollzog, wenn man in einen Sturm geraten war.

Insofern bietet gerade diese Stelle den Sprachforscher ein "ächtes" Rätsel, zeigt sich die Redewendung "Wie im Fluge" als Ausdruck höherer Geschwindigkeit doch schon älter, als daß ein Mensch geplant einen Geschwindigkeitsrausch im Flug hätte erleben können. Oder zeigte sich May hier gar als großer Visionär des Düsenzeitalter?

Schließlich gelangt die Unterhaltung zur Literatur der Gegenwart und damit das Fragment zu einem abruppten Ende. Somit sollte auch der Rezensent schweigen, wenn es da nicht die ungeheuere Spannung zwischen dem Titel und dem Text geben würde. Wer oder was ist da "zerrissen"? Das Fragment gibt dazu keinerlei Aufschluß. Ist es ein weiterer Reisender, der hinzusteigt und die Unterhaltung zum Stocken bringen wird? Vielleicht etwa ein seelisch zerrissener Mensch, entlassen aus einem Gefängnis? Oder ist es gar - dem Karl-May-Leser fallen natürlich die grausamen Eisenbahnüberfälle in den Winnetou-Erzählungen und das schreckliche Attentat in "Die Liebe des Ulanen", ja selbst der Hinweis im Repertorium: Meine schrecklichste Stunde: "West-Eastern Reilway." ein - ein Eisenbahnunglück, welches das Idyll des Eisenbahncoupes zerreissen wird.

Ahnungsvoll muß der Rezensent an Thomas Manns "Das Eisenbahnunglück" denken, ja, fuhr denn der Mann nicht "nach Dresden, eingeladen von Förderern der Literatur". Sicher, jener Mann fuhr erster Klasse, nicht zweiter, zudem fuhr er allein im Abteil und unterhielt sich allenfalls rauchend mit einem Buch. Und was muß er da hören "Lassen Sie mich in Ruhe - Affenschwanz!!" - Dies aber sei, so führt Mann aus, "ein Herrenausdruck". Und was schrieb May über seine Eisenbahnrunde? - "Keiner der Herren (...)" ... eine reine Herrenrunde also! Schonungslos wird hier in wenigen, knappen Worten die seinerzeitige gesellschaftliche Unterdrückung der Frau, ihre Unterbindung der Teilhabe am öffentlichen Leben beschrieben und für die Nachwelt dokumentiert!

Noch mehr Parallelen: Auch Manns Geschichte ist ebenfalls "der Wirklichkeit nacherzählt": "Einmal, es ist schhon zwei Jahre her, habe ich ein Eisenbahnunglück mitgemacht (...)" und dann diese Angst vor den "Aufräumungsarbeiten" an dem Manuskript: "zerstört also, zerfetzt, zerquetsht wahrscheinlich." Zerrissen gar? - möchte man hinzufügen. Zerrissen, wie Mays Manuskript? Ist der Titel etwa Programm? Plante May gar nicht, weiter zuschreiben? Hat er sein Blatt zerrissen? Fragen über Fragen!!!

Wahrhaftig, dieses kurze Fragment ist ein überzeugendes Zeugnis der frühen Schaffenskraft des Maysters, ein heiliges Dokument seiner ersten Blüte der Begabung. Überdeutlich zeigt sich, daß der "verwirrte Proletarier" ein früher Proto-Mann hätte werden können, hätte ihn die Sorge um das tägliche Überleben nicht in die Hände der Kolportage gedrängt. Ungebremst von so unwichtigen Details exakter geographischer und ethnologischer Angaben kann er hier in diesem kleinen heimatlichen Text sein volles Talent entfalten, ohne daß ihn die Erbsenzähler und Bohnennümmerer dabei irgendwelche Fehler vorwerfen könnten.

Der Leser glaubt sich versetzt in dieses Coupé, verstrickt in diese mannigfaltigen Gespräche, die sicherlich, einem Zugabteil-Gleichnis angemessen, derart hochwichtige Fragen wie "Woher kommen wir? Wo sind wir? Wohin fahren wir?" beleuchtet haben. Der ungeschriebene Inhalt, ebenso wie der Ausgang des Abenteuers, bildet für den sensitiven Leser ein unendlich reiches Ausmaß zu genüßlichen Spekulationen: Man möchte förmlich mitfühlen und mitleiden mit den ungenannten Männern, deren ungewisses Schicksal sich in der düsteren und zugleich magisch anziehenden Metapher - ja in DER Metapher für unser modernes Lebensgefühl überhaupt - verbirgt: ZERRISSEN.

Eintrag von Rüdiger (vom 11.2.2007) (weitere Einträge von Rüdiger)

Zu diesem kurzen Text gibt es bereits eine Rezension, die des früh verstorbenen Thomas Schwettmann, und ich verweise auf diese.

Ganz offenkundig (er äußerte sich seinerzeit nachträglich auch entsprechend) hat Schwettmann hier sowohl Karl May, als auch, mehr noch, einem seiner Anhänger kräftig eins auswischen wollen, und das ist ihm durchaus und sehr originell gelungen, ich habe heute beim erneuten Lesen zunächst heftig grinsen und später gar halblaut lachen müssen.

ABER: an [fast] allem, was er da schreibt, ist etwas dran, er mag wollen oder nicht. Und das ist der Witz, in diesem Text, wie im Leben. Spaß und Ernst schließen sich nicht aus, existieren nebeneinander, beieinander, gleichzeitig. Und so kann man über etwas lachen und es gleichzeitig ganz ernst nehmen. Wenn man denn dazu in der Lage ist.

Rezension schreiben bzw. bearbeiten
 
VERSCHWÖRUNG IN WIEN (2)
VERSCHWÖRUNG IN WIEN (1)

KARL MAY UND DIE MUSIK (1)
Karl-May-Welten IV (1)